Kapitalmarktausblick 05/2024
Konjunktur, Zinsen und Aktien
Im Mai 2024 scheint die Rezessionsgefahr in den USA, in Europa und in Japan gering, aber dadurch sind auch die Erwartungen bezüglich der Zinssenkungen in den USA gedämpft. Die Aktienmärkte der großen Industrieländer bleiben dennoch in der Nähe der Rekordkurse, weil man auf Zinssenkungen ohne Rezession hofft. Wie realistisch ist dieses Szenario und wie werden Aktien auf eine schlechtere Konjunktur oder auf Zinsänderungen reagieren?
Aus den Bewegungen der Zinsen für 2-jährige Staatsanleihen im Vergleich zu den Geldmarktzinsen, die von den Zentralbanken festgelegt werden, kann man für die USA und Deutschland ablesen, dass die Geldmarktzinsen bald sinken werden. Die Renditen 2-jähriger Staatsanleihen begannen nämlich immer zu steigen (grüne Pfeile in Grafik 1 und 2), bevor die Geldmarktzinsen angehoben wurden. Auch bei allen Zinssenkungen begann die Abwärtsbewegung der Renditen der 2-jährigen Staatsanleihen (rote Pfeile) vor der Senkung der Geldmarktzinsen durch die Zentralbanken. Bisher waren die Renditen 2-jähriger Staatsanleihen demzufolge ein absolut zuverlässiger Frühindikator für die künftige Entwicklung der Geldmarktzinsen.
Aktuell sinken die 2-Jahres-Zinsen schon seit einigen Monaten – in den USA wurde der Höhepunkt mit 5,22% im Oktober (aktuell 4,96%) und in Deutschland mit 3,36% (aktuell 3,08%) im Juli des letzten Jahres erreicht (Grafiken 1 und 2, dunkelblaue Linie).
Die Zinssenkungserwartungen werden durch die hohe Rezessionswahrscheinlichkeit, die die US-Zentralbank errechnet (Grafik 3) und durch die Frühindikatoren für die Konjunkturentwicklung in diversen Industrieländern (Grafiken 4, 10, 16) und in China (Grafik 26) gestützt.
Das Rezessionsprognosemodell der US-Zentralbank hatte bereits im Januar 2023 einen sehr hohen Wert erreicht, ohne dass – anders als bei allen Rezessionen der letzten 55 Jahre – bisher eine Rezession eingetreten ist. Der Grund dafür liegt in der enormen Neuverschuldung der US-Regierung (siehe dazu den Kapitalmarktausblick vom Februar 2024, den Sie hier finden).
Der Leading Economic Indicator (LEI) des 1916 gegründeten Prognoseinstituts The Conference Board zeigt sogar schon seit Dezember 2021 wie vor jeder Rezession seit 1970 eine deutlich abwärtsgerichtete Tendenz (Grafik 4). Der Indikator fiel vor allen Rezessionen bis zu deren Beginn um 4% bis 7% (Grafik 5). Diesmal hat er seit seinem letzten Höhepunkt bereits 13% verloren, ohne dass die Konjunktur Schwäche zeigt – extrem hohe Staatsausgaben können also tatsächlich eine längst fällige Rezession verzögern, vermutlich bis zur Wahl des nächsten US-Präsidenten am 5. November 2024.
Der US-Aktienmarkt verhält sich ebenfalls ungewöhnlich. Mit Ausnahme einer kurzen Periode nach der ersten Ölkrise 1974, als der Aktienmarkt dem hochschnellenden Frühindikator nicht gefolgt ist, verliefen die Bewegungen der Aktienkurse und des Frühindikators parallel (Grafik 6, die Aktienkurse und die LEIs werden hier und in den folgenden Grafiken trendbereinigt gezeigt). Damit ist der Aufschwung der Aktienkurse seit September 2022 bei stark fallendem LEI sehr auffällig. Zum Teil kann man diesen Anstieg mit der Euphorie bei den großen Technologieaktien erklären, zumal bei den kleineren Aktiengesellschaften (Small Caps, Grafik 7) keine entsprechende Aufwärtsbewegung zu verzeichnen war.
Auf den kräftigen Anstieg der Zinsen für 10-jährige Staatsanleihen seit 2021 haben die Small Caps deutlich stärker mit einer unterdurchschnittlichen Kursentwicklung reagiert als die großen Firmen (Grafiken 8 und 9). Sollte der erwartete Zinsrückgang einsetzen, dürften die Small Caps davon stärker profitieren, da sie in den letzten Jahren eine sehr negative Korrelation zu den Zinsen gezeigt hatten.
Auch in der Eurozone ist ein geeigneter Frühindikator, der von der Europäischen Kommission berechnete Geschäftsklimaindikator, zuverlässig vor jeder Rezession gefallen (Grafiken 10 und 11) und befindet sich nach der kurzen Rezession im Jahr 2023 weiterhin in einer Abwärtsbewegung.
Sowohl große (Grafik 12) als auch kleine Firmen (Grafik 13) reagieren ähnlich wie die US-Firmen auf die Bewegungen dieses Frühindikators für die Konjunktur. Die großen Firmen haben seit Herbst 2022 dem Abwärtstrend des Konjunkturindikators getrotzt und leicht überdurchschnittliche Kursgewinne erreicht, während die kleinen Firmen nicht so positiv abgeschnitten haben. Entsprechend dürften die großen Firmen beim Eintreten einer Rezession unterdurchschnittlich abschneiden, zumal man den Kursaufschwung der letzten Zeit nicht wie in den USA mit einer starken Aufwärtstendenz von großen Technologieaktien erklären kann.
Auch die Zinsempfindlichkeit der kleinen Firmen ist in der Eurozone genau wie in den USA deutlich ausgeprägter (Grafiken 14 und 15); die negative Korrelation liegt hier bei -0,97 und damit fast beim Maximalwert von -1. Der Zinsanstieg hatte die Small Caps deutlich stärker getroffen, aber beim Eintreten eines Zinsrückgangs dürften sie stärker profitieren.
In Deutschland ist der von der OECD seit über 60 Jahren errechnete LEI ebenfalls gesunken und hat sich in den letzten Monaten stabilisiert (Grafik 16). Auch dieser Indikator ist vor jeder Rezession deutlich gefallen. Er hat zwar – ebenso wie der LEI der Eurozone – auch Abwärtsbewegungen gezeigt, denen keine Rezession gefolgt war, wie Mitte der 80er und 90er Jahre, aber nach einem so starken Rückgang wie in den letzten 2 Jahren fand in den letzten 50 Jahren immer eine Rezession statt (Grafik 17).
Die Aktienkurse zeigen in Deutschland dasselbe Verhalten in Bezug auf den LEI und die Zinsen wie in den USA und in der Eurozone, nämlich grundsätzlich eine positive Korrelation zum LEI und eine negative Korrelation zu den Zinsen. Bei den großen Firmen besteht allerdings die Besonderheit, dass sie, anders als in den USA und in der Eurozone, den Rückgang des LEI in den letzten Jahren nicht mit einer überdurchschnittlichen Kursentwicklung ignoriert haben (Grafik 18). Eine Rezession sollte also für die Anleger keine große Überraschung sein. Die deutschen Small Caps, hier vertreten durch die MDAX-Werte (MDAX: Index der mittelgroßen Firmen), haben den Rückgang des LEI mit einer sehr schwachen Kursentwicklung begleitet, sodass hier die Restrisiken nicht besonders hoch sein sollten. Ein sinkender Zins – bei einer Rezession eine sehr wahrscheinliche Begleiterscheinung – wird in Deutschland insbesondere bei den Small Caps, die seit Langem eine negative Korrelation zu den Zinsen aufweisen (Grafik 21), aber auch bei den großen Firmen (Grafik 20) helfen.
In Großbritannien ist der LEI zuletzt sogar deutlich gestiegen, während die Aktienkursentwicklung gleichzeitig unterdurchschnittlich war (Grafik 22). Damit dürfte der Aktienmarkt zurzeit wenige Risiken aufweisen, zumal auch britische Aktien von sinkenden Zinsen profitieren sollten – deren Korrelation zu den Zinsen ist seit 2 Jahren wieder negativ (Grafik 23).
Ein deutlich von den westlichen Industrieländern abweichendes Bild zeigt der japanische Aktienmarkt. Zwar besteht auch hier in den meisten Fällen die übliche und wirtschaftlich auch sinnvolle positive Korrelation zwischen dem LEI und den Aktienkursen (Grafik 24), aber die seit 35 Jahren ununterbrochen vorliegende positive Korrelation zwischen Aktien und Zinsen (Grafik 25) ist ungewöhnlich und bedarf der Erläuterung.
Japanische Aktien hatten bis 1989 einen ähnlichen Ruf unter den Anlegern wie aktuell die großen US-Technologiefirmen. Man war der festen Überzeugung, dass Hochtechnologie-Produkte künftig nur noch in Japan hergestellt werden dürften, da Japan die besten Ingenieure, Wissenschaftler und Facharbeiter habe. Die Vorstände westlicher Großunternehmen reisten nach Japan, um zu lernen, wie man auf moderne Weise industrielle Produktion betreibt. Auf dem Höhepunkt der Japan-Euphorie waren japanische Aktien in den vorangegangenen 20 Jahren achtmal so stark gestiegen wie der weltweite Aktienmarkt (Grafik 26). Die Dividendenrendite erreichte 1989 den historisch weltweit bis dahin und auch seitdem nie wieder erreichten Tiefststand von 0,4% (Grafik 27). Als diese Blase platzte, sorgten große Verluste der japanischen Anleger für eine lange Phase der Stagnation in Japans Wirtschaft; der japanische Aktienindex Nikkei konnte erst im Jahr 2024 wieder den Stand vom Dezember 1989 erreichen. Seit dieser Zeit galten aber in Japan sinkende Zinsen als Zeichen einer fortgesetzten wirtschaftlichen Schwächephase und animierten die Anleger daher nicht zum Aktienkauf, während die in den letzten Jahren leicht steigenden Zinsen (Grafik 25) als Zeichen einer wirtschaftlichen Stabilisierung gesehen werden und dem Aktienmarkt eher helfen. Daraus resultierte die obengenannte jahrzehntelange positive Korrelation von Aktien und Zinsen in Japan.
Auch im Wirtschaftswunderland China gilt meistens ein positiver Zusammenhang zwischen dem LEI und den Aktienkursen (Grafik 28). Nicht sehr ermutigend ist jedoch die Entwicklung des LEI (Grafik 29), der seit fast 40 Jahren eine nur kurz durch die Corona-Krise (2020) unterbrochene Aufwärtstendenz zeigte. Seit Februar 2022 geht es nun ebenso konsequent abwärts. China steht vor großen Problemen und wird für die Weltwirtschaft nicht mehr das Zugpferd sein wie in den letzten Jahrzehnten (siehe Kapitalmarktausblicke vom November 2021 (hier), September 2022 (hier) und Juni 2023 (hier)).
Fazit: Einige Aktienmärkte, insbesondere die großen Firmen in den USA, aber in geringerem Umfang auch der Eurozone, haben trotz schwacher Frühindikatoren für die künftige Entwicklung der Wirtschaft in den letzten anderthalb Jahren deutliche Kursgewinne erzielt, was nicht dem üblichen Verhalten entspricht. Allerdings werden auch diesen Aktienmärkten sinkende Zinsen im Zuge einer künftigen wirtschaftlichen Schwäche helfen, wie es mit Ausnahme Japans in den letzten Jahrzehnten überall üblich war. Geringe Risiken bergen der deutsche und britische Aktienmarkt und überall die kleineren Firmen, da diese die Schwäche der LEIs nicht ignoriert haben und auf Zinssenkungen besonders positiv reagieren dürften, wie es auch in der Vergangenheit der Fall war. China benötigt starke Unterstützung seitens der Regierung und der Zentralbank, damit die chinesischen Aktien ihre Schwächephase überwinden können. Diese Hilfe ist in ersten Ansätzen zu erkennen, bisher aber keineswegs ausreichend groß genug.
Dies war übrigens bereits der 50. FINVIA-Kapitalmarktausblick. Ich bin heute schon gespannt, was im 100. stehen wird.
An dieser Stelle werden wir wie üblich die Kernaussagen unseres Kapitalmarktausblicks von vor 3 Jahren liefern, damit Sie ein Gefühl für unsere Langfristprognosen bekommen.
Den Kapitalmarktausblick von Mai 2021 finden Sie hier. Darin haben wir ausführlich alle Argumente zusammengetragen, die für nachhaltig steigende Inflationsraten sprechen:
- Steigende Staatsverschuldung für konsumtive Zwecke
- Demografie
- Deglobalisierung
- Gelddrucken und Konjunkturprogramme wegen Corona
Das war damals absolut keine Konsensmeinung. Die US-Zentralbank nahm die erste Zinserhöhung im März 2022 vor, also 10 Monate später. Die EZB brauchte bis zum Juli 2022, um sich zu einer ersten Zinserhöhung von 0% auf 0,5% aufzuraffen.
Den Kapitalmarktausblick können Sie auch hier herunterladen.